Am vergangenen Sonntag betörte der erst 16 Jahre alte Ivan Bessonov das Publikum im Mannheimer Rosengarten. Am Pult der Russischen Nationalphilharmonie: Vladimir Spivakov.
Als „große Tschaikowsky-Nacht“ wurde das Konzert angekündigt, inszeniert ausschließlich von Landsleuten des Komponisten. Für kurzfristig entschlossene Klassik-Liebhaber gab es sogar noch einige Karten an der Abendkasse – was wohl nur mit der relativen Unbekanntheit der Protagonisten erklärt werden kann. Denn deren Darbietung konnte sich durchaus mit den Auftritten der Branchenprominenz messen lassen, die stets die Konzerthäuser bis auf den letzten Platz füllen.
Nicht ohne Grund wird Vladimir Spivakov in seiner Heimat gefeiert wie ein Star. Seine Karriere begann Anfang der 1970er Jahre als Violin-Virtuose mit Weltklasse-Orchestern wie den Wiener und Berliner Philharmonikern und Dirigenten wie Leonhard Bernstein, Georg Solti, Lorin Maazel und Claudio Abbado. Seit 2003 vereint der Preisträger beim Paganini-Wettbewerb die Musiker-Elite aus Moskau und Sankt Petersburg in der Russischen Nationalphilharmonie. Die UNESCO ernannte ihn zum „Künstler des Friedens“ und in Frankreich, wo er seit fast 30 Jahren das ‚Festival International de Colmar’ leitet, wurde er zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen.
„Ich bereite mich oft auf Proben an Bord von Flugzeugen vor – ich finde, dass ich in einem geschlossenen Raum besser arbeite“, bekannte er in einem Interview, „es gibt niemanden, der mich ablenkt und keine Mobiltelefone, die klingeln. Es herrscht mehr Stille.“ Seine Interpretation von Tschaikowskys fünfter Sinfonie zeigte die kongeniale Umsetzung dieser Maxime. Mit seinem erstklassig besetzten Orchester vermochte er die reiche russische Klangpalette voll auszuschöpfen. Vor allem die Holzbläser überzeugten, allen voran das samtweiche Solo zum Beginn des Adagios. Nicht minder exquisit das Blech, das wie aus einem Guss aufspielte. Mit großer Geste modelliert der 74jährige mit seiner teils seltsam anmutenden Schlagtechnik den eleganten, ebenso farbig wie klangprächtigen Klang. Gleich drei auf Deutsch angesagte Zugaben sind sein Dank für den begeisterten Applaus des Mannheimer Publikums – und eine weitere Chance, die ganze Ausdrucksspannweite des Elite-Ensembles zu genießen.
Vor der Pause überlässt der Maestro dem erst 16 Jahre alten Ivan Bessonov die Bühne. Der schlaksige Teenager, der als Dreizehnjähriger den Grand Prix beim Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb in St. Petersburg gewann, geht Tschaikowskys erstes Klavierkonzert mit unbändiger Kraft und Energie an. Technisch souverän meistert er das anspruchsvolle Werk mit jugendlichem Sturm und Drang. Sein professioneller Gestus enthebt ihn seines Alters. Voller jugendlichem Tatendrang hebt es ihn bisweilen von der Klavierbank, während seine blonde Mähne wallt. Teils mangelt es seinem Spiel an Tiefe und Ausdruck, was in seinem Alter auf diesem Niveau aber auch nicht erwartet werden sollte. „Meine ganze Familie ist in der Musik tätig, wir leben in ihr. Kreative, fließende Lebensenergie dominiert bei uns“, beschreibt der kürzlich zum Sieger des „Eurovision Young Musicians 2018“-Wettbewerbs gekürte Pianist. Mit seinen kleineren Brüdern Nikita und Danila tritt er im Trio auf – mit von ihm komponierter Musik.
Der Dialog zwischen dem Ausnahmetalent und dem Orchester funktioniert hervorragend. Bessonov erhält von Maestro Spivakov auch in den Fortissimo-Passagen stets genügend Raum, um sich Gehör zu verschaffen. Auffallend: Die lange Umarmung der beiden Vollblutmusiker am Schluss. Ältere Semester werden sich an das Jahr 1988 erinnern. Damals startete der 17jährige Jewgeni Kissin an der Seite von Herbert von Karajan mit einer brillant-frischen Interpretation von Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 seine einmalige Weltkarriere, die bis heute andauert – als bleicher Jüngling mit Baby-Gesicht.
Fotos: MB-Concerts (2), Vladimier Spivakov