Hélène Grimaud, 1969 in Aix-en-Provence geboren, wurde mit 13 Jahren jüngste Klavierstudentin aller Zeiten am Pariser Konservatorium. Mit 15 nahm sie ihre erste CD auf, seit 2002 produziert sie exklusiv für die Deutsche Grammophon. 2003 erschien ihre Autobiografie „Wolfssonate“, in der sie über ihr Leben als hochbegabtes Kind, ihre künstlerischen Überzeugungen und ihre Beziehung zu Wölfen schreibt. Sellawie-Chefredakteur Christian Euler trifft die Ausnahmepianistin am Tag nach ihrem Konzert im ausverkauften Luzerner Kultur- und Kongresszentrum. Stehende Ovationen, wie überall. Sie sitzt in der Lobby des edlen Palace Hotel – in Jeans, geduldig, unprätentiös, am Boden geblieben. Star-Allüren sind ihre Sache nicht.
Madame Grimaud, wollen wir uns auf Deutsch unterhalten?
Sie können die Fragen gern auf Deutsch stellen, die Antworten möchte ich aber lieber auf Englisch geben. Mein Deutsch ist dafür nicht gut genug.
Klingt nach starker Untertreibung, schließlich haben Sie viele Jahre in der deutschsprachigen Schweiz gelebt.
Es ist einer der schönsten Gegenden der Welt – und wenn ich etwas sagen will, fällt mir oft das deutsche Wort ein, weil es viel besser passt als das englische. Aber man muss die Grammatik wirklich beherrschen, Improvisieren funktioniert hier leider nicht.
Genauso wenig wie beim Klavierspiel. Waren Sie zufrieden gestern?
Das ist eine sehr gute Frage. Denn das, was rüberkommt ist nicht immer das, was ich fühle – und umgekehrt. Es ist immer wieder faszinierend, das festzustellen. Sehr oft sind es zwei verschiedene Welten. Den Bogen zu spannen und das alles ein großes Ganzes werden zu lassen, ist eine ganz besondere Herausforderung. Das erfordert ein extra Level an Konzentration, viel mehr, als Du normalerweise brauchst. Manchmal fühlst Du Dich während der ganzen Zeit Deines Spiels vollkommen eins mit Allem.
War das gestern der Fall?
Als Perfektionist denkt jeder Künstler daran, was er hätte besser machen können. Gottseidank ist das so. Denn wenn Du die Bühne verlässt und denkst „wow, wie großartig, wie cool“, dann ist das der Anfang vom Ende. In der Musik geht es nicht um die olympische Performance. Vielmehr ist sie eine zerbrechliche, ja mysteriöse Erfahrung, etwas, was sich während der Aufführung entwickelt und wächst. Das ist es, was sich mit dem Publikum verbindet. Wenn das nicht klappt, war die ganze Mission umsonst. Ich glaube, gestern ist der Funke übergesprungen – und dafür bin ich dankbar.
Wieso haben Sie sich Wasser als Thema Ihres Rezitals ausgesucht?
Wasser ist die wertvollste und am meisten gefährdete Ressource. Wir nehmen das als „selbstverständlich“ (sagt es in Deutsch) hin. Künstlerisch interessiert mich dieses Thema, weil es eine Inspirationsquelle für viele Komponisten war. Letztlich passt es zu meiner Überzeugung, dass alle Bereiche unserer Existenz in einer weltumspannenden Intuition wurzeln und dass die Natur die ultimative Muse und als stärkste Quelle der Inspiration auch eine Brücke zur geistigen Welt ist. Kein Künstler kann ohne Instinkte überleben.
Spielen Sie lieber Solo-Rezitale oder Konzerte mit Orchestern?
Ich habe viele Jahre das Spiel mit dem Orchester vorgezogen. Es war äußerst inspirierend und aufregend, mit 80 Leuten auf der Bühne zusammen zu musizieren und sich von den gegenseitigen Energien anstecken zu lassen. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mehr und mehr das Rezital für mich entdeckt. Es ist eine extrem herausfordernde, fast religiöse Erfahrung. Und es ist viel schwerer. Der emotionale, mentale und selbst der physische Anspruch sind dreimal höher als bei Orchesterwerken. Dabei liegt die alleinige Verantwortung auf Deinen Schultern. Das ist sehr schwer, aber ungemein bereichernd. Nicht zu vergessen: Der Auftritt beim Rezital dauert viel länger. Manche Klavierkonzerte sind nach 25 bis 30 Minuten vorbei. Das geht mir viel zu schnell.
Jazzpianist Keith Jarrett verlässt meist die Bühne, wenn er im Publikum Niesen oder Husten hört. Ist das nur divenhaftes Gehabe eines Superstars?
Ich weiß, dass es manche Kollegen enorm stört. Bei mir war das bisher glücklicherweise nur zweimal der Fall. In Paris hat es mich fast aus der Bahn geworfen, ich konnte mich kaum noch auf mein Spiel konzentrieren. Grundsätzlich bin ich dankbar dafür, dass diese Leute lieber zu mir ins Konzert kommen, als krank zuhause zu bleiben. Und meistens macht es mir gar nichts aus.
Sind Sie nach Jahrzehnten als Starpianistin noch aufgeregt, wenn Sie die Bühne betreten?
Der Adrenalin-Kick ist immer noch da. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Was vor dem Aufritt passiert ist kein Spaß. Doch ich brauche das Adrenalin, weil es mich auf ein ganz anderes Aufmerksamkeitslevel bringt. Wenn Du auf die Bühne gehst wie zum Üben zuhause, fehlt Dir etwas.
Wie lange dauert es, bis Sie wieder runterkommen?
Mindestens zwei oder drei Stunden. Nach den Konzerten bin ich am liebsten allein, manchmal bleibe ich sogar in der Konzerthalle und übe. Ich bin dann so fokussiert, dass ich in zwei, drei Stunden das gleiche Pensum schaffe wie sonst an einem ganzen Tag. Das ist fantastisch.
Sie sind nicht nur Pianistin, sondern schreiben auch Bücher mit Tiefgang. Würden Sie sich als Philosophin bezeichnen?
Ich fühle mich selbst nicht so, aber ich mag das Denken. Schreiben ist eine Art Übersetzung, eine andere Weise zu teilen als die Musik. Aber Du bist viel weniger ausgeliefert wie auf der Bühne, weil Du Dich hinter Wörtern verstecken kannst. Meine ersten Freunde waren die Bücher, noch bevor ich mit dem Klavierspiel angefangen habe. Ich habe viel gelesen.
Sie müssen ein kleines Kind gewesen sein…
…ich habe mit acht Jahren mit dem Klavier begonnen, manche Kollegen haben in diesem Alter ihr erstes Konzert gegeben. Mit vier begann ich zu lesen. Vor allem die russische Literatur hatte mich fasziniert. Heute lese ich fast nur wissenschaftliche Literatur, da bleibt für meine geliebten Autoren kaum noch Zeit.
Gibt es für Sie einen Sinn des Lebens?
Man sollte dankbar sein für das, was man hat. Dann kann man mit innerem Frieden durchs Leben gehen, statt frustriert über das zu sein, was unerreichbar scheint. Gleichzeitig sollte man immer große Träume haben. Sonst wird man niemals Großes schaffen. Das klingt sehr einfach, aber es wirkt. Elementar ist auch, im Jetzt zu leben. Man sollte den Augenblick leben, als wäre er das Einzige, was existiert. Die Erfüllung des Augenblicks ist das einzige, was wir wirklich besitzen. Ich habe das in meiner Beziehung zu meinen Wölfen gelernt. Sie lassen Dir gar keine andere Wahl, als im Moment zu leben – so wie es die östlichen Religionen lehren.
Im Jetzt zu leben schließt aber aus, sich ein Lebensziel zu setzen…
… das ist ein interessanter Punkt. Wäre ich zu Beginn meiner Karriere gefragt worden, wo ich mich nach zehn Jahren sehe, hätte ich nie daran gedacht zu antworten, mit einem bestimmten Orchester oder Dirigenten zu spielen oder ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Alles was ich wollte, war, mich künstlerisch und als Mensch weiterzuentwickeln. Das hat sich bis heute nicht geändert. Solange ich nicht stagniere interessiert es mich nicht so sehr, wohin meine Reise führt. Das ist das einzige Ziel – sofern man das so nennen kann.
Was verbindet Ihre Wölfe mit der Musik?
Vielleicht ist es die Suche nach etwas Umfassenderem, als es unser Menschsein ist, das die Musik und die Wölfe für mich bedeuten. Musik und jede andere künstlerische Anstrengung fordert eine große Schärfe der Sinne und der ursprünglichen Qualitäten des Menschen, die so sehr verkümmert sind. In diesem Zusammenhang sind die Wölfe und die Musik einander sehr nahe. Sie ergänzen sich – und machen mein Leben ganzheitlicher.
Man darf sich Hélène Grimaud also als glücklich vorstellen?
Ich bin definitiv glücklich. Es ist ein Privileg, das zu tun, was ich tue – und ich bin mit Vielem gesegnet. Ich möchte davon etwas zurückgeben, über meine Musik und auch das Wolf Conservation Center in Upper New York State. Sich glücklich zu fühlen ist aber auch eine Sache der Einstellung.
Verkörpert Musik etwas Überirdisches?
Ich glaube fest an etwas, das größer ist als wir. Auf der Bühne spüre ich das am stärksten. In meinen besten Konzerten passiert etwas, das nicht viel mit mir selbst zu tun hat. Es ist wie eine Intuition und ich spüre, dass der Geist des Komponisten präsent ist. Denke ich an die Werke von Bach, glaube ich, dass Gott Bach eine Menge schuldet. Ohne ihn wüssten viele Menschen nicht, dass Gott existiert.
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