Keith Jarrett gehört zu den prägenden Persönlichkeiten der Jazzszene. Er ist ein Visionär und glänzender Klassikinterpret – und er ist der Hohepriester der Improvisation.
Am 8. Mai 1945 erblickte in Allentown, Pennsylvania, Keith Jarrett das Licht einer Welt, in der mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine neue Zeitrechnung anbrach. Als Kind schon früh als Klassik-Interpret gefeiert, avancierte er zu den einflussreichsten und kreativsten Persönlichkeiten der internationalen Musikszene des 20. und 21. Jahrhunderts. Mit sieben Jahren stand der junge Keith zum ersten Mal auf der Bühne und gab sein erstes Recital unter anderem mit Bach, Beethoven und Schumann. Danach bildete er mit seinem drei jüngeren Bruder, der Geige spielte, ein Duo der Wunderkinder.
Wolfgang Sandner, Musikkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Marburg hat zum siebzigsten Geburtstag von Keith Jarrett eine Biographie über den öffentlichkeitsscheuen Musiker geschrieben, das kürzlich vom Rowohlt Verlag veröffentlicht wurde (Wolfgang Sandner, „Keith Jarrett: Eine Biographie“). Kein einfaches Unterfangen, denn – so der Autor – „ein Interview und einen Fototermin mit Keith Jarrett zu bekommen, ist ungefähr so schwierig wie die Aufzucht von Panda-Bären.“
Doch Sandner schaffte es, den Pianisten über viele Jahre sogar in seinem Privathaus in Oxford im US-Bundesstaat New Jersey immer wieder zu treffen – bis man sich zerstritt. Dass Sandner eines seiner Konzerte als einen seiner großen Erfolge bezeichnete, löste „sein ausgesprochenes Missfallen aus und brachte unseren Dialog zum Erliegen.” Die Begeisterung des Musikwissenschaftlers ist fast grenzenlos: Er vergleicht den amerikanischen Jazz-Pianisten mit Chopin und Liszt, mit Friedrich Gulda und Glenn Gould. „Bemerkenswert sind aber auch die Ostinati, an denen er sich so ostentativ festhält. Einmal eingeführt, kann man sich kaum etwas Swingenderes, Ekstatischeres, Bewegenderes im wahrsten Sinne des Wortes vorstellen.“ Wie recht der langjährige Jarrett-Intimus hat!
Sein Stil setzt indes einige musikalische Grundkenntnisse voraus. Sätze wie „ …fängt der Abend ergreifend schlicht n den Achttaktperioden eines nachempfundenen Folksongs an und endet im Chaos des Free Jazz, nicht ohne dem polyphonen Satz des Barock eine klingende Hommage zu bereiten oder über weite Ostinato-Landschaften zu demonstrieren…“ wollen erst einmal durchdrungen sein. Schade, dass es angesichts des umfangreichen Werks kein Stichwortverzeichnis gibt.
Für Sandner haben „die Orte seiner raren Solokonzerte für Jazzfans mittlerweile einen ähnlichen Status erlangt wie Santiago de Compostela für Gläubige auf dem Jakobsweg.“ Der Autor dieser Zeilen kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Jarretts Konzert in der Frankfurter Alten Oper am 21. Oktober 2007 – sein ersten und einziges Solokonzert in Deutschland seit 15 Jahren – war drei Tage nach Bekanntgabe des Termins bis auf den letzten Platz ausverkauft. Begeisternder Applaus, als Jarrett die Bühne betritt. Plötzlich ein Huster, dann gleich noch einer. Wer Jarrett kennt, weiß, was nun folgt. Er unterbricht sein Spiel, geht an den Bühnenrand und beginnt einen Monolog über die Schwierigkeit, sich zu konzentrieren. Auch er huste ja nicht. Darauf verlässt er die Bühne und kommt nach einer Zwangspause wieder. Ähnliches passierte ein knappes Jahr zuvor im Pariser Salle Pleyel, wo der sture Meister mit seiner ihm eigenen Oberlehrerattitüde allzu renitente Handy-Fotografen mit dem Verlassen der Bühne bestrafte.
Zum Meilenstein der Musikgeschichte wurde sein Köln Konzert von 1975, das rund vier Millionen Mal als LP oder CD verkauft worden und damit zur meistverkauften Solo-Aufnahme in der hundertjährigen Geschichte des Jazz avancierte. Jarrett ist ein besessener Arbeiter: Bis heute umfasst seine Enzyklopädie des Klavierspiels inklusive seiner Werke mit Mitstreitern wie Gary Peacock und Jack DeJohnette 74 Produktionen erschienen, unterstützt durch das deutsche Label ECM und dessen Gründer Manfred Eicher – besiegelt mit Handschlag. Kürzlich ist seine neueste CD mit dem Titel „Creation“ erschienen.
Seine Stegreifkompositionen sind stupend, ebenso seine technische Brillanz und sein nie versiegender Ideenreichtum. Dass der Mann mit dem absoluten Gehör ein ausgezeichneter Pianist ist, zeigt nicht zuletzt seine Einspielung des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach. Wer dem Mysterium Keith Jarrett näher kommen will, kommt an Wolfgang Sandners 361 Seiten starker Biographie nicht vorbei. Auch wir verneigen uns und sagen: Herzlichen Glückwunsch zum siebzigsten Geburtstag, Keith Jarrett! Mögest Du uns noch lange mit Deiner genialen Kunst verzaubern!
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