Der Ranthambore-Nationalpark zählt zu den bekanntesten Tigerreservaten Indiens. Die Chance, hier einer der majestätischen Großkatzen zu sehen ist hoch, aber nicht garantiert. Aber auch ohne Tiger lohnt der Besuch.

Noch vor Sonnenaufgang öffnet sich das Gatter des Ranthambore-Parks. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis die Sonne langsam den kühlen Dunst der Dämmerung vertreibt. Ranthambore im südöstlichen Rajasthan, gilt als einer der besten Orte, um die als gefährdet eingestuften bedrohten Bengal-Tiger in freier Wildbahn zu erleben.

200352442-001Die Chancen, Indiens Nationalraubkatze zu sehen, erzählt uns Guide Jeevan, ist frühmorgens und am späten Nachmittag am größten, weil die trägen Tiere dann zur Nahrungsmittelbeschaffung aufbrechen. Schließlich stammen sie vom Sibirischen Tiger ab – doch der ist erst vor rund 10 000 Jahren eingewandert. Erdzeitgeschichtlich betrachtet ist das gerade mal ein Wimpernschlag – zu wenig, um aus dem kältegewohnten Sibirischen einen an die enorme Sommerhitze angepassten Bengalischen Tiger zu machen. Rund ein Zentner Frischfleisch in zwei Tagen stehen auf seinem Speiseplan. Doch selbst sein Hunger ist keine Garantie für den fotografischen Abschuss. Um einen Löwen in einem afrikanischen Nationalpark zu sehen, bedarf es viel weniger Fortüne. Aber der bis zu sechs Zentner schwere Dschungelkönig denkt nicht daran, sich wie sein afrikanisches Großkatzenpendant stundenlang vor den Augen vergnügungssüchtiger Touristen zu präsentieren.

Refugien wie Ranthambore sind unabdingbar, um den Bestand der majestätischen Raubtiere zu erhalten. Im 19. Jahrhundert sollen rund 100 000 Tiger durch Indiens Wälder gestreift sein, Anfang der 1970er Jahre waren es 5000, der aktuelle Bestand liegt gar bei nur noch 1600. Die Prachtkatzen fielen dem Aberglauben der Potenzsteigerung mit Tigerpenissen, Profitgier und den prall gefüllten Geldbörsen skrupelloser Trophäenjäger zum Opfer. Den Abschussrekord soll ein Maharadscha in den 1950er Jahren mit 1200 erlegten Exemplaren geschafft haben. Es war höchste Zeit für das „Project Tiger“, das 1973 von der indischen Regierung unter Führung von Indira Gandhi ins Leben gerufene Schutzprogramm gegen die Wilderei auf dem Subkontinent.

Knapp 50 Jahre später richten sich acht müde, zusammengekniffene Augenpaare gebannt auf den Urwald und eröffnen an diesem Morgen die visuelle Tigerjagd. Mehr als 40 der schönen Bestien, die in Gestalt von Shir Khan in Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ Jagd auf den jungen Mogli machten, sollen laut einer Zählung der National Tiger Conservation Authority vom Mai 2012 hier leben. Fachkundig scannt Guide Jeevan die nähere Umgebung auf Spuren und Geräusche. Seit acht Jahren führt der schlaksige Endvierziger Gäste aus aller Welt in Jeeps oder offenen Kleinbussen durch den Park – und er weiß, wo die begehrten Großkatzen zu jagen pflegen. T (=Tigerin) 17 will er uns heute zeigen. „Man nennt sie auch „Die Hure“, weil sie mit jedem schläft“, klärt uns Jeevan mit einem verschmitzten Lächeln auf.

Der Motor ist verstummt, Jeevan drückt seinen Zeigefinger auf die Lippen. Jetzt sind es nur die archaischen Klänge des Urwalds, die sich wie ein urzeitliches Klanggemälde längst vergangener Zeiten über uns legen. Jäh wird die fast schon kontemplative Ruhe unterbrochen. Aber es ist nicht der vielfach herbeigesehnte Vierbeiner, sondern ein herannahender Jeep. Fahrer und Führer tauschen sich aus, um das Netz um den König des Dschungels enger zusammen zu ziehen.

Bär_3466Plötzlich – endlich? – ein fernes Knacken im Unterholz, ungeduldiges Nesteln an den Kameras. Sind wir am Ziel und können den Bengalischen Tiger von unserer Liste der „most wantend animals“ streichen? Fehlalarm, auch wenn der Koloss, den wir nun sehen, alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist: Ein Lippenbär tapst seelenruhig durch den Wald, ohne sich von den aufgeregten Touristen aus dem fernen Westen stören zu lassen.

Dringende Bedürfnisse, die während der knapp drei Stunden dauernden Tour nur allzu menschlich sind, dürfen nur an dem dazu auserkorenen Ort inmitten des Parks erledigt werden. Sonst ist Aussteigen strengstens verboten, auch wenn der Mensch nicht zum Beuteschema des Tigers gehört. Vom gar nicht so stillen Örtchen kommend, das hier aus einem Erdloch hinter verwitterten Mauern besteht, kann man Sumpfkrokodile am Ufer eines kleinen Sees beobachten, die träge dösend ihr Sonnenbad nehmen.

Überhaupt herrschen strenge Regeln im mit einer Fläche von knapp 1400 Quadratkilometern größten Nationalparks im nördlichen Indiens, der bis 1970 Jagdgebiet eines Maharadschas war. Nur 40 Fahrten pro Tag sind erlaubt, entweder in den frühen Morgenstunden und späten Nachmittag. Zudem müssen sich die zuvor registrierten Fahrzeuge an festgelegte Routen halten, um eine gewisse Gleichverteilung zu erreichen. In den Wintermonaten kann es gerade auf der morgendlichen Tour klirrend kalt sein. Die Fahrt im offenen Kleinbus, der früher in der indischen Armee seine Dienste tat, ist dann nur mit dicken Wolldecken und wärmenden Gedanken zu ertragen.

See m. Spiegel _3480Der Maharadscha hatte offensichtlich mehr Glück auf der Tigerpirsch, denn der König des Dschungels macht sich immer noch rar. Die holprige Fahrt im ungefederten Kleinbus geht weiter. In Europa würde die Piste automobilen Stoßdämpfertestern das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Wer weit hinten sitzt, wird die schmerzhaften Auswirkungen der vielen Schlaglöcher auf den Allerwertesten noch mit in den Schlaf nehmen.

Doch Jeevan lenkt unsere Aufmerksamkeit vom gestauchten Steiß auf den Boden neben dem Bus und deutet auf mehrere tellergroße Abdrücke der mächtigen Tigertatzen. Und tatsächlich, nur wenige Fahrminuten später sehen wir das Objekt unserer Begierde: T 17, leibhaftig und nur einen Steinwurf entfernt – aber leider nur für einen kleinen, doch unvergesslichen Moment. Denn die kapriziöse Großkatze zeigt uns buchstäblich die kalte Schulter. Kurz sehen wir ihren Kopf und das zauberhaft gestreifte Fell von der Seite, und schon verschwindet sie im dichten Gestrüpp.

 

Affenpaar m. Baby_3507Den König des Dschungels haben wir nur kurz gesehen, doch dafür werden wir – dem elefantenköpfigen Gott Ganesha sei Dank –Zeugen eines ganz besonderen Rituals, das selbst für Tigerflüsterer Jeevan seltener ist als die launischen Riesenkatzen. Höchstens 50 Meter entfernt, mitten auf der staubigen Fahrbahn, kreuzen zwei Sambarhirsche ihr kapitales Geweih. Auf rund 200 Kilogramm Körpergewicht und knapp 1,50 Meter Schulterhöhe taxiert Jeevah die auch Pferdehirsch genannten graubraunen Boliden. Es geht buchstäblich knallhart zu Sache im Tierreich, wenn es um die Gunst des schönen Geschlechts geht. Der Stolz lässt keine Niederlage zu: Minutenlang schlagen die brünftigen Bullen, teils auf den Hinterbeinen stehend, mit ihrem etwa ein Meter langen Geweih aufeinander ein. Manchmal gehen diese Kämpfe tödlich aus, doch einer der Bullen ergreift plötzlich die Flucht – genau in unsere Richtung. Die Safari-Fans auf der rechten Busseite zucken unwillkürlich zusammen und ziehen den Kopf ein. Doch es kommt nicht zur Kollision. Kurz vor dem Crash dreht der Verlierer ab und verschwindet schnaubend im Unterholz.

Trunken von tierischen Trophäen werden wir kaum den Hanuman-Languren gewahr, die uns – mit ihren schwarzen, von einem hellen, im leuchtenden Haarkranz umgebenen Gesichtern, den Abschied aus dem Park versüßen.

 

Anreise: Die Lufthansa fliegt von München und Frankfurt nach New Delhi. Von dort aus sind es gut sechs Stunden Autofahrt Richtung Süden in den Ranthambore-Nationalpark.

Einreise: Ausländische Touristen benötigen ein Visum, das viel bürokratischen Aufwand erfordert. Seit Mitte 2011 werden Visa-Anträge nur noch im Online-Verfahren akzeptiert. Informationen unter https://indianvisaonline.gov.in/visa.

Arrangements: Der Reiseveranstalter Thomas Cook ( www.thomascook.info)) bietet in Kooperation mit Tour Vital ( www.tourvital.de) preis- und durchführungsgarantierte Rundreisen mit ärztlicher Begleitung, u.a. nach Nordindien, Rajasthan und Südindien an, die mit zusätzlichen Bausteinen individuell erweitert werden können. Eine 18-tägige Rajasthan-Rundreise kostet inklusive Lufthansa-Linienflug ab 1799 Euro pro Person im Doppelzimmer. Vor Ort: Orient Express, Travels and Tours (www.orientexpressltd.com)

Informationen: Indisches Fremdenverkehrsamt, Baseler Straße 48, 60329 Frankfurt, Telefon: 069/ 2429490, www.india-tourism.de.