Zwei Jungstars der Klassikszene zeigen in Baden-Baden ihr Können auf zwei Klavieren.
Schon bevor der erste Ton erklingt, wird augenscheinlich: Dieser Klavierabend gehört den Jungen Wilden, Tradition und Konvention bleiben vor der Tür des Baden-Badener Festspielhauses. Die 26-jährige Deutsch-Japanerin Alice Sara Ott im rückenfreien Hosenkleid – schlank, schön, kinnlange schwarze Haare –betritt barfuß die Bühne. Mit drei Jahren entschied sie sich, Pianistin zu werden. Mit fünf gewann sie den Musikwettbewerb „Jugend musiziert“.
Francesco Tristano, eigentlich Francesco Tristano Schlimé, vor kurzem 33 geworden, gab mit 13 Jahren sein erstes Konzert mit eigenen Kompositionen. Auch sein Auftritt widerspricht gängigen Gepflogenheiten auf den internationalen Konzertpodien. Der Luxemburger trägt schwarze Röhrenhosen und Stiefeletten zum Jackett. Mit seinem Schuhwerk wird er später noch sein Spiel unterstützen.
Tristano, der Ravels „Boléro“ für zwei Klaviere arrangiert hat, spielt den berühmten Trommel-Rhythmus nicht auf der Taste seines Yamaha-Flügels, sondern zupft die Bass-Saite seines Yamaha-Flügels. Alice Sara Ott setzt auf ihrem Steinway vornehm zurückhaltend mit der Melodie ein. „Ich habe nur ein einziges Meisterwerk komponiert – den „Boléro“. Leider völlig ohne Musik“, behauptete einst Maurice Ravel über sein Werk, das schon als Hintergrundmusik für seichte Liebesszenen in der „Traumfrau“ herhalten musste.
Selbst wenn Ravel mit seiner Selbsteinschätzung richtig lag – was allenfalls an seiner Verweigerung der abendländischen Musiktradition gelegen haben dürfte, die auf Themenkontraste und thematisch-motivische Entwicklung setzte: Die Interpretation des Boléro durch Tristano und Ott ist die pure Freude an der Musik. Hier und da sind Harmonien zu entdecken, die so bisher noch nicht zu hören waren. Basierend auf einer klugen Dramaturgie bauen die beiden Tastenkünstler den Spannungsbogen auf, fügen unterschiedlichste klangfarbliche Akzente hinzu und steigern die Dynamik Takt für Takt bis zum stürmischen Schlusseffekt, als Tristano zum Finale furioso die Tasten mit seinem Ellbogen bearbeitet.
Beide Klavier-Wunderkinder lesen vom Blatt ab, ohne einen stillen Helfer zum Umblättern zu bemühen. Verblüffend das Tempo, in dem sie den Seitenwechsel schaffen, ohne musikalisch an Fahrt zu verlieren. Nach den von Ravel höchstselbst für zwei Klaviere arrangierten „Trois Nocturnes“ folgt „La Valse.“ Bei dieser Apotheose des Wiener Walzers sind Ott und Tristano in ihrem Element: kurzweilig, spontan und natürlich, kontrastreich zwischen Fortefortissimo und sehr leise mäandernd.
Nach der Pause folgt Tristanos von Jazz und Impressionismus geprägte Eigenkomposition „A Soft Shell Groove Suite“, bei der der Luxemburger mit seinen Schuhen den Rhythmus vorgibt. Alice Sara Ott, die ihre west-östliche Abstammung als Bereicherung betrachtet, fordert das Publikum zum Mitklatschen auf.
Den Schlusspunkt des zweistündigen Abends bildet Strawinskys „Sacre du Printemps“. „Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des ,Feuervogels‘ niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das war das Thema von ,Le Sacre du Printemps‘“, sagte der Komponist über sein Werk, das für ihn den Weg vom Impressionismus zur expressionistischen Tonsprache ebnete.
Entsprechend dominieren hochartifiziell konstruierte rhythmische und bitonale Passagen das Klangbild, die Harmonik gestaltet sich kaum noch nach alten funktionalen Schemata Lyrische Partien gibt es nur selten. Wie Ott und Tristano das „Frühlingsopfer“ auf zwei Klavieren zu interpretieren ist nicht nur eine mentale Meisterleistung, sondern zudem körperliche Schwerstarbeit. Wild, laut und kompromisslos geht es zur Sache. Das Spiel ist selbstbewusst, überaus lebendig und vollerüberschäumender Spielfreude. Dass dabei manche detaillierte Differenzierung auf der Strecke bleibt, tut der Freude beim Zuhören keinen Abbruch. Lang anhaltender Applaus und Bravorufe.
Als Zugabe spielen die beiden pianistischen Edelrebellen Mozarts Klaviersonate in G-Dur für Klavier zu vier Händen, die angesichts des fulminanten Frühlingsopfer-Feuerwerks leider verblasst und – wen wundert’s – fast etwas kraftlos wirkt.
Wer das Konzert verpasst hat, kann Francesco Tristano und Alice Sara Ott am 17. Oktober in der Stuttgarter Liederhalle live erleben. Das Programm ist auch Bestandteil der kürzlich bei der Deutsche Grammophon erschienen CD “Scandale”. Im Frühjahr folgen Auftritte in Madrid, London und Wels (Österreich). Weitere Termine der Deutsch-Japanerin auf http://www.alicesaraott.com/schedule/.
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