Vergangenen Samstag gab mit Alexandre Kantorow der Ende Juni gekürte Gewinner des Tschaikowsky-Wettbewerbs seine äußerst gelungene Premiere im Baden-Badener Festspielhaus.
Das weiße Hemd über der Hose, lässig auf die Bühne schreitend, erinnert Alexandre Kantorow eher an einen jungen Mann, der gerade vom nachmittäglichen Plausch mit Freunden kommt. Dass es sich bei dem 22-jährigen um den Gewinner des Grand Prix für Klavier beim Tschaikowsky-Wettbewerb – einem der weltweit renommiertesten Musikwettbewerbe – handelt, stellt er nach den ersten Takten eindrucksvoll unter Beweis. Versunken in seine Welt erzeugt er einen Sog, dem man sich kaum zu entziehen vermag. Kantorow ist der erste Franzose, der den alle vier Jahre stattfindenden Wettbewerb seit seiner Gründung 1958 gewinnen konnte. Damit steht er in einer Reihe mit Vladimir Ashkenazy, Grigory Sokolov, Mikhaïl Pletnev und Denis Matsuev.
Im Finale am 27. Juni spielte er Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 2 und Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2. Ersteres hat er auch für sein Debüt im Festspielhaus zu Baden-Baden ausgewählt, zugleich sein erster Auftritt auf einem internationalen Konzertpodium nach dem Triumph von Moskau. Valery Gergiev, Co-Vorsitzender des Organisationskomitees des Wettbewerbs, steht ihm mit seinem Mariinsky-Orchester zur Seite.
Zu Unrecht fristet Tschaikowskys 2. Klavierkonzert bis heute ein Schattendasein, ist es dank seines thematischen Einfallsreichtums und seiner expressiven Dialogpassagen zwischen Soloinstrument und Orchester doch ein paradigmatisches Beispiel für romantische Klaviermusik. Jungstar Alexandre Kantorow meistert selbst die schwierigsten Passagen scheinbar mühelos, etwa die 130 Takte umfassende Kadenz im Kopfsatz am Ende der Reprise.
Entspannt ruht er am Anfang des zweiten Satzes über den Tasten auf dem Rahmen des Steinways – um wie auf Knopfdruck präsent zu sein. Souverän und sauber differenzierend interpretiert er das anspruchsvolle Werk in einer seltenen Kombination aus juvenilem Draufgängertum und Reife. Den starken Beifall des Baden-Badener Publikums und die vielen Bravorufe nimmt Kantorow fast schüchtern entgegen. Voller Zurückhaltung blickt er in den Saal, als wisse er nicht, wie ihm geschieht. Allüren, wie sie manch andere junge Pianisten offenbaren, sind dem Sohn des Geigers und Dirigenten Jean-Jacques Kantorow gänzlich fremd. Sein Dank für den lang anhaltenden Beifall ist Tschaikowskys Meditation op. 72 No. 5 d –moll.
Freudenrausch und Weltenschmerz
Bravorufe gibt es auch für Eva-Maria Westbroek, die im Anschluss an Kantorow den Schlussgesang der Brünnhilde aus Richard Wagners Oper “Götterdämmerung” vorträgt. Im Unterschied zu dem jungen Franzosen ist die Niederländerin bereits eine etablierte Größe der internationalen Musikerszene. Spätestens seit 2008, als sie in Bayreuth die Sieglinde in „Die Walküre“ verkörperte, zählt sie zur Spitzenliga. Passionierte Festspielhausbesucher werden sich an ihre glanzvolle Isolde erinnern, die sie im Rahmen der Osterfestspiele in Baden-Baden bei der viel gefeierten Inszenierung von „Tristan und Isolde“ mit den Berliner Philharmonikern gab.
Nach der Pause wechselt Maestro Gergiev von der Begleiter- in die Hauptrolle. Auf dem Programm steht Tschaikowskys Opus ultimum. Nur drei Wochen nach der Uraufführung der sechsten Sinfonie starb der an Depressionen leidende Komponist an der Cholera, nachdem er – möglicherweise absichtlich – ungereinigtes Flusswasser getrunken hatte. Valery Gergiev, der das Mariinsky Orchester seit 1988 leitet, dirigiert auswendig, ohne Taktstock und ohne Podest. Unablässig flattern seine Finger und Hände. Es scheint, als schicke er imaginäre Stromschläge ins Orchester, das seinerseits eine handfeste Leidenschaft entfacht. Ob Show oder nicht: Das Mariinsky-Ensemble bleibt Gergievs flatternden Händen treu – auch wenn der Dialog zwischen Dirigent und Musikern bisweilen nicht feststellbar ist. Passagen von großer Schönheit und inniger Zärtlichkeit stehen im Kontrast zu dunkler Dramatik. Euphorische Aufschwünge und bodenlose Abstürze wechseln einander ab.
Bei aller Expressivität enthält sich das Ensemble jeglichem falschen Pathos. Die Tempi sind sportlich, fast überdreht im Scherzo. Mit unerbittlicher rhythmischer Schärfe peitscht Gergiev seine Musiker voran. Nicht einmal zwischen den Sätzen bleibt Zeit zum Durchatmen. Umso länger verharrt der Maestro am Ende des Parforceritts in kontemplativer Stille, bis er jäh unterbrochen wird von Beifall – und, einmal mehr, von Bravorufen. Soviel Begeisterung bei jedem einzelnen der meist drei Werke umfassenden Musikabende gab es sehr selten in Baden-Baden. Andreas Mölich-Zebhauser, der seit 1998 bis zum 1. Juli die Geschicke des Festspielhauses bestimmt hatte und vom Rande des Abgrundes an die Weltspitze führte, hat sich und dem Publikum mit diesem Abend drei Sternstunden der Musik beschert.
Fotos: Andrea Kemper