Am vergangenen Sonntag gab Cameron Carpenter im Baden-Badener Festspielhaus sein Orgelrezital und glänzte mit außergewöhnlicher Musikalität.

Würde man ihm abseits der Konzertbühne begegnen, wäre Cameron Carpenter die Inkarnation des Punks. Stylish gekleidet, muskelbepackt und trotzdem androgyn, nonkonformistisch in der Attitüde, die Frisur zwischen Irokesenschnitt und Igelfrisur changierend. Der Spross aus einer unmusikalischen Familie verkörpert einen Organisten-Typus, der dem herkömmlichen Bild so gar nicht entspricht .

Im Baden-Badener Festspielhaus kombinierte er Krawatte mit grau-gemustertem Samtanzug – fast der klassische Schwiegersohn-Typ. Wer den 35-Jährigen spielen hört, der bereits mit 14 Jahren die University North Carolina School of the Arts besuchte, würde sich glücklich schätzen, ihn zum engsten Familienkreis zählen zu dürfen.

(c)Thomas Grube

Mit dem Rücken zum Publikum zelebriert er seine Kunst auf seiner individuell nach seinen Vorgaben gefertigten und designten, mehr als eine Million Euro teuren “International Touring Organ”. Das tonnenschwere digitale Wunderwerk von Marshall & Ogletree hat mit einer Pfeifenorgel lediglich die Tasten, aber hier verteilt auf fünf Manuale, gemeinsam. Selbst die Pedale sind nicht linear, sondern zum Rand hin aufsteigend angeordnet. Samples von Orgeln aus aller Welt, die in unterschiedlichen historischen Stimmungen justiert und innerhalb dieser wieder in sämtlichen Halbtonschritten abgerufen werden können, eröffnen ein unerschöpfliches Reservoir an gesampelten Klängen.

Für den passenden Klang sorgt eine 48-Kanal-Sound-Anlage mit über einem Dutzend schwarzer Subwoofer und Lautsprechern, die mit roter Hintergrundbeleuchtung in Szene gesetzt werden. „Die Orgel ist kein kirchliches Instrument, es ist an der Zeit, mit diesem Missverständnis aufzuräumen“, lautet das Credo des 1981 in Pennsylvania geborenen Künstlers, der Religion als wichtigsten Hinderungsgrund für die Weiterentwicklung des Menschen bezeichnet.

Passend zum ersten Advent stand das Thema Weihnachten im Mittelpunkt des Rezitals. ‚O du fröhliche’ transkribierte Carpenter selbst für seine Orgel, der er dafür gar den Klang reinster Glocken entlockte. Zurückhaltend, fast meditativ, mutet seine Interpretation dieses Klassikers an. Auch die englische Weise ‚Once in Royal David’s City’ und ‚Winter Wonderland’ von Felix Bernard gibt der Exzentriker in seiner eigenen Bearbeitung zum Besten.

(c)Thomas Grube
(c)Thomas Grube

Vor seiner Improvisation bittet er um Nachsicht, weil die Einstellung der Register – zumindest für ihn – zu lange dauert: „Entschuldigung“, sagt der Wahl-Berliner in reinstem Deutsch ohne amerikanische Färbung, „alles für die Konzert“. Carpenter improvisiert zum Thema „Weihnacht in drei amerikanischen Weisen: ‚Christmas in the Sun’, ‚Down Home for the Holidays’ und ‚Christmas in New York’. Teils meint man, Harmonien von Gershwin zu lauschen. Die mit Swarovski-Strass besetzten Schuhe funkeln golden, wenn der charismatische Orgel-Revoluzzer die Pedale in tänzerischer Leichtigkeit traktiert.

Das musikalische Highlight des Abends ist Johann Sebastian Bachs c-Moll-Passacaglia BWV 582, in der Carpenter neben höchster Virtuosität auch seine in sich gekehrte Seite zeigt. Mit viel Subtilität zeichnet er diese wunderbare Musik in ihren feinen Farben und Schattierungen nach. Beeindruckend ist die schlafwandlerische Sicherheit, mit der Carpenter diese hoch komplexe Materie beherrscht. Seine stupenden technischen und musikalischen Fähigkeiten erlauben es ihm, selbst in schnellen Tempi zwischen fünf Manualen zu wechseln und ständig die Registrierung zu verändern, um so die Klangfarben dramaturgisch zu steigern. Fast unglaublich, dass all das mit nur zwei Händen und Füßen möglich ist.

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(c)Thomas Grube

Wie so oft hat er das Programm kurzfristig geändert. Tschaikowskys Tanz der Zuckerfee aus der Nussknacker-Suite entfällt. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich zu vier Zugaben verleiten lässt? Kaum hat er den letzten Ton gespielt, springt Cameron Carpenter von der Orgelbank auf, legt die Hände vor der Brust zusammen und verneigt sich andächtig und achtungsvoll. Mit fast devoter Geste nimmt er den Applaus des leider nicht einmal halb gefüllten Festspielhauses entgegen.

Sellawie-Tipp:

All you need is Bach, Sony, 8887 5178 262
The Sound of my Life, Eine Dokumentation über das Entstehen der International Touring Organ. Sony DVD & Blu-ray, 8884 3050 2796

Titelfoto: Andrea Kemper