Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker bescheren den Osterfestspielen einen traumhaften „Tristan“ – trotz fragwürdiger Inszenierung.
Es war Richard Wagners Leidenschaft für seine Muse Mathilde Wesendonck, die den Impuls für den „Tristan“ setzte. Bei der jungen Gattin seines Züricher Gönners fand der Komponist Verständnis für sein Künstlertum, das ihm seine eigene Frau Minna offenbar nicht geben konnte. Mathilde war gleichsam seine geistige, platonische Isolde. Tristan und Isolde – das uralte Drama von den Königskindern, die nicht zueinander kommen können – entstand just in der Zeit, in der sich zeigte, dass seine Liebe („der Welt holdester Wahn“) zu Mathilde Wesendonck unerfüllt bleiben würde.
Als Sir Simon Rattle in den 1990er Jahren erstmals Richard Wagners „Tristan“ produzierte, machte er eine Erfahrung, die er bis dahin nicht kannte: „In der Mitte des zweiten Akts hatte ich während der Generalprobe das stärkste Verlangen, mich in embryonaler Lage auf die Bühne zu legen und zu schluchzen. Und es bedurfte einer großen Willensanstrengung, mich nicht dieser total gefährlichen Welt hinzugeben.“
Ein knappes Vierteljahrhundert später steht der britische Pultstar im Orchestergraben des Baden-Badener Festspielhauses, um dort erstmals die wohl wichtigste Oper des 19. Jahrhunderts zu entfesseln. Schon das Vorspiel zum ersten Akt lässt erahnen, wohin die musikalische Reise geht. Selbst zerbrechlichste Pianissimi sind von einer Reinheit und Luzidität, die ihresgleichen suchen. Herausragend das Solo von Dominik Wollenweber am Englischhorn zu Beginn des dritten Aufzugs. Fast überirdisch rein und beseelt sucht diese musikalische Ausdruckskraft ihresgleichen.
In Worte fassen lässt es sich am besten mit Wagner selbst, der in seinem Werk über Beethoven schrieb, dass, „wenn wir diese Musik hören, wir den traumartigen Zustand…, in welchem uns daher jene andere Welt aufgeht, aus welcher der Musiker zu uns spricht“, erkennen.
Ein Glücksfall, dass es Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern und den Gesangssolisten gelingt, die Liebesraserei auf allerhöchstem Niveau in Töne zu kleiden – in allen tonmalerischen Details, mit Wellengang und Zaubertrank, Verrat und Ehrverlust. Denn die Inszenierung kann nicht mithalten. Der polnische Regisseur Mariusz Treliński lässt die Solisten in einem Kriegsschiff (Bühne: Boris Kudlicka, Kostüme: Marek Adamski) auftreten und taucht die gesamte Inszenierung in trübes Licht – was sich als Sinnbild für die ewige Nacht als Schauplatz abgrundtiefer Gefühle interpretieren ließe.
Der erste Akt scheint optisch schlüssig. Im Mittelpunkt steht ein dreistöckiges Schiff, seitlich geöffnet. Der obere Bereich, in dem sich Tristan findet, ist Sinnbild für das Denken, gleichsam das Haupt, während die mittlere Ebene des Schiffs, auf der Isolde wohnt, die Sphäre des Fühlens, mithin das Herz widerspiegelt. Unten, in den tiefsten Tiefen lauert der Tod. Dort nehmen die Liebesleidenden den vermeintlichen Todestrunk entgegen, der in Wahrheit ein Liebestrunk ist, weil ihn Brangäne, Isoldes Vertraute, vertauscht hat.
Kaum zu verstehen vermag man indes die Idee, die Treliński bewogen haben mag, den zweiten Akt in eine wenig lauschige Lounge zu verlegen. Allzu verwegen scheint es, dies als Spiegel des Gefühlszustandes von Tristan und Isolde zu inszenieren, die trunken sind vor Liebe. Als die „Nacht der Liebe herniedersinkt“ und die beiden zutiefst bewegend ihr tränenseliges Duett singen, flackern auf dem durchsichtigen Gaze-Vorhang vor Ihnen zunächst Nordlichter in gelb. Dann beginnt ein Flug über unberührte Natur, der erst in einer fernen Galaxie endet.
Geradezu grotesk wird es im dritten Akt, der einem vollständigen Bruch zum Vorangegangenen gleichkommt. Ein steriles Krankenbett mit Tropfständer in schwarzgetäfelter, nüchtern-kalter Spital-Atmosphäre. Besonders befremdlich wird es im Schlussgesang: Während Simon Rattle mit seinem Ausnahme-Orchester und die wunderbare Eva-Maria Westbroek musikalisch die Sterne vom Himmel auf die Erde zaubern und Isolde in der Schlussarie ihre Liebe zu Tristan verklärt: „In des Welt-Atems / wehendem All / ertrinken / versinken / unbewusst / höchste Lust!“ setzt Mariusz Treliński die Protagonisten wie ein gelangweiltes, alterndes Ehepaar nebeneinander.
Gleichwohl rührt die Szene zu Tränen, weil sie Simon Rattle mit seinem fantastischen Ensemble zutiefst gefühlvoll auf die Hörbühne hievt. Dazu gesellt sich die individuelle Klasse der Gesangssolisten. Die niederländische Sopranistin Eva-Maria Westbroek stellt Verzweiflung und Leidenschaft auch nach mehr als viereinhalb Stunden mit verblüffender Präzision, und betörender Dynamik dar. Stuart Skelton, Sänger des Jahres 2014 (International Opera Awards), singt seinen Tristan nicht wie gewohnt stählern und mit blitzendem Glanz, sondern lyrisch. Auch der australische Tenor, der in Baden-Baden sein szenisches Debüt in dieser Rolle gibt, beherrscht seine exorbitant fordernden Partien kraftvoll und beglückend präsent über die gesamte Distanz.
Sarah Connolly, die für ihre stilistische Bandbreite zum ‚Commander of the Order of the Bristish Empire’ gekürt wurde, verkörpert eine bewunderungswürdige Brangäne, während Stephen Milling, der im vergangenen Jahr in Bayreuth den neuen Hagen spielte, einen atemberaubend textverständlichen, volltönenden König Marke darstellt. Tristan-Diener Kurwenal wird fabelhaft prägnant und souverän vom ungarisch-stämmigen Michael Nagy gemimt, der 2011 als Wolfram Teil des „Tannhäuser-Wunders von Bayreuth“ war.
Nachdem Isolde ihr Leben ausgehaucht hat, wird es ruhig im Festspielhaus. Es bleibt ein wenig Zeit zum stillen Verarbeiten des Erlebten. Dann intensiver Jubel mit Bravo-Rufen.
Weitere Termine: Freitag, 25. März und Montag, 28. März 2016