Zwei außergewöhnliche Autoren schreiben ein außerordentliches Buch. „Indien“ von Pier Paolo Pasoloni und Andreas Altmann ist ein Genuss – und gehört unter jeden Weihnachtsbaum.
1960 bereist der italienische Schriftsteller und Filmemacher Pasolini mit Alberto Moravia und Elsa Morante für einige Wochen nach Indien, bestaunt das Land und seine Menschen. Der Mann, der als eigenwilliger Provokateur in die Filmgeschichte eingegangen ist, gibt sich Indien mit sämtlichen Sinnen hin. Er will sehen, hören, riechen und fühlen, um so das Geheimnis, die Rätsel und unzähligen Wunder dieses großartigen Landes zu ergründen.
Andreas Altmann folgt seinen Spuren im heutigen Indien und schildert in seinem unnachahmlichen Duktus, was sich seit Pasolinis Reise verändert hat, was verschwunden ist und was das Enfant Terrible anders gesehen hat. Das ist ihm wunderbar gelungen. Überhaupt ist Altmann die perfekte Wahl. Der in Paris lebende Autor zählt derzeit zu den erfolgreichsten Reiseschriftstellern, ausgezeichnet unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis. Seit 1996 erschienen von ihm 17 Bücher. „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Hervorragend ist auch „Triffst du Buddha, töte ihn!“, sein Selbstversuch im ‚Trainingscamp des inneren Friedens’.
Nun also schreibt Altmann im Duett mit Pier Paolo Pasolini, über den er schwärmt: „Wer ihn liest, sitzt in einem Kino“. Er verehrt ihn, den „ehemaligen Volksschullehrer, der sein erstes homoerotisches ‚Wonnegfühl’ beim Betrachten der Kniekehlen Fußball spielender Jungen empfand, …den Freigeist, den Moralisten, der auf die kirchenchristliche Moral des italienischen Großspießertums spuckte…“ Der damals 39-jährige Pasolini fordert mit seinem poetischen, federleichtem Pinselstrich zur inneren Einkehr, zur Demut auf – ohne dies auch nur an einer einzigen Stelle zu verbalisieren. Ein Beispiel: “Arme Kühe, deren Fell zu Schlamm geworden ist, von obszöner Magerkeit, manche nicht größer als Hunde, vom Hunger zermürbt, das Auge abgelenkt von Gegenständen, die ewig Enttäuschung bieten”.
Altmann drückt sich weniger poetisch aus: “Die heiligen Kühe, die – wenn auch meist mager wie ihre Besitzer- die drei Millionen Quadrat-Kilometer des Subkontinents belagern. Sie dürfen (fast) überall sein, überall hinmachen, überall – mitten im Straßenverkehr – im Wege stehen, ja im Wege liegen. Sie sind heiliger als die Menschen, denn sie haben stets Vorfahrt, nie trifft sie ein gewaltsamer Tod, kaum eine verhungert. Die indischen Kühe sind wie die indischen Menschen; mit überirdischer Geduld nehmen sie hin, was ihnen das Leben übrig lässt”.
Pasolini bekundet: “Obgleich Indien eine Hölle des Elends ist, lebt es sich gut dort”. Der Satz mag angesichts der allgegenwärtigen Armut und dem tagtäglichen Wahnsinn befremdlich klingen. Doch Altmann gelingt die literarische Quadratur des Kreises “wer – ohne Eifer – die fremde Wirklichkeit wahrnimmt, ohne sie mit eigenen Vorstellungen vom rechten Leben zu ersticken, wird ihn annehmen”.
Beide Autoren sind mit Leib und Seele dabei, werden überflutet von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Sinneseindrücke in einem Land, das gleichzeitig Albtraum und zauberhaftes Märchen ist. Manchmal bestätigen sie, manchmal weichen sie ab von dem, was Pasolini gesehen und gespürt hat.
Die ausdrucksstarken, sehr intensiven Fotografien von Isabela Pacini sind nicht nur eine kongeniale Ergänzung des Erzählten, sondern verleihen den Worten Altmanns und Pasolinis eine visuelle Authentizität. „Indien“, in der Betrachtungsweise der Sprachmeister Pier Paolo Pasoloni und Andreas Altmann ist ein wunderschönes, tief berührendes, unbedingt lesenswertes, inspirierendes Buch. Ein Gedanke, der besonders lange nachhallt, stammt von Andreas Altmann: “Es gibt jene Stunden von vollkommener, ja unerträglicher Schönheit, die wie eine Wunde spüren lassen, was das Leben sein könnte. Und was es sein sollte.”
Pier Paolo Pasoloni, Andreas Altmann: Indien
Corso Verlag, Wiesbaden
ISBN 978-3737407021