Alice Sara Ott wusste von klein auf, was sie will. Nach dem Besuch eines Klavierkonzertes entschied sie mit drei Jahren, Pianistin werden zu wollen – gegen den Wunsch ihrer Mutter. Mit fünf gewann sie den Musikwettbewerb „Jugend musiziert.“ Wie denkt und fühlt sie heute? Eine Begegnung.
Mit ihren 26 Jahren ist Alice Sara Ott faszinierend weise. Wie schade, dass sie so wenig Zeit hat, gern hätten wir uns stundenlang mit ihr unterhalten. Dass sie am Tag ihres Auftritts in der Stuttgarter Liederhalle überhaupt ein Treffen möglich macht, freut uns umso mehr. So kurz vor dem Konzert, das sie mit dem charismatischen Francesco Tristano geben wird, interessiert uns besonders: Ist sie nervös, wenn sie vor ausverkauftem Haus die Bühne betritt? Im Gegenteil sagt die Tochter einer Berufspianistin. Sie kennt dieses Gefühl gar nicht, weil sie schon von Klein auf vor Publikum aufgetreten ist. Die große Bühne ist der Ort, wo sie sich am wohlsten fühlt, wo sie frei ist. Denn hier kann sie sich am besten mitteilen. Durch die Musik kann sie ausdrücken, was mit Worten nicht mehr möglich ist. “Ich mag es, über die Musik mit den Menschen zu kommunizieren”, bringt es die Deutsch-Japanerin auf den Punkt. Nervös ist sie nur dann, wenn sie eine Rede halten muss.
Dass auch bei einer Starpianistin nicht immer alles rundläuft, räumt Alice Sara Ott freimütig ein. „Fehler gibt es immer wieder, ein Livemoment lebt ja von den ganzen Geschehnissen, die in dem Moment selbst entstehen.“ Flügel, Saal und die Akustik, auch die Konzertbesucher sind niemals gleich. Hinzu kommt ihre eigene mentale und psychische Verfassung, die ebenfalls nicht konstant sein kann. Die Folge: Manchmal lässt sich all das, was sie zuvor geprobt hat, nur zu 50 Prozent umsetzen.
Gefragt ist daher eine gewisse Flexibilität. „Wichtig ist, wie ich mit der Musik rüberkomme und die Menschen anspreche“, meint die Steinway-Liebhaberin, „es gehört zu einem Liveauftritt, dass mal was schiefgeht und man auch mal einen ganz anderen Ton spielt als in den Noten steht“, gibt sich die Tastengöttin ganz irdisch. Und wenn etwas passiert, muss sie darüber lächeln: „Das gehört zum Livemoment, das ist Leben. Ansonsten muss man sich eine CD kaufen. Das Publikum, die Akustik und wir Künstler auf der Bühne sollten ein Körper sein. Kommunikation muss stattfinden.“
Einspruch, liebe Alice! Die bei der Deutschen Grammophon erschienenen CD „Scandale“ enthält ein Werk, das Ott/Tristano auf ihrer Livetour nicht darbieten: Die unbedingt hörenswerte Klavierfassung der ‚Scheherazade“ von Nikolai Rimski-Korsakow. Geht es um Kommunikation, die Alice Sara Ott bei Live-Konzeren fordert, ist die emotionale Verfassung entscheidend. Natürlich hat die Berlinerin gelernt, „gewisse Sachen abzustellen und auszublenden“. Wenn sie glücklich ist, ist ihr Konzert umso besser. Das spürt auch das Publikum: „Jeder kann Musik empfangen und verstehen – sie verbindet die Menschen.“
Da sie in zwei Kulturen aufgewachsen ist, sich aber in keinem Land ganz zu Hause fühlt, gab ihr die Musik nicht nur eine Identität und Stimme. Sie gab ihr Halt, denn:“Während eines Konzertes gibt es keine Vorurteile mehr, keine Mauern. Die Musik hat mir schon in meiner Kindheit bei der Suche nach meiner eigenen Idendität geholfen. Sie gibt mir Schutz und ist immer der Ort gewesen, an dem ich mich am besten verstanden fühlte.“
Zelebriert sie ihre Musik, tut sie das am liebsten barfuß. „Es fühlt sich einfach besser an. Außerdem fällt es nicht jedem auf, weil ich meist lange Kleider trage.“
Privat hört die zierliche Tasten-Titanin nur wenig Klaviermusik: Da kann ich nicht abschalten und bin zu stark konzentriert.“ Neben Kammermusik, Liedern von Schubert und Symphonien mag sie auch Pink Floyd, Led Zeppelin, Tom Waits und die Jazzpianistenlegende Oscar Petersen. „Ich mag es, wenn es Melodien gibt. Francesco Tristano macht auch tolle elektronische Musik, aber ich muss mich da hineinfinden.“
Beneidet sie manchmal heimlich ihren Freundinnen, die ein ganz „normales“ Leben führen oder wie hält sie dem Leistungsdruck stand? „Jeder Mensch hat Druck im Leben“, antwortet sie, „je nach dem welchen Beruf er ausübt – es gibt immer Druck von Außen. Man muss lernen, damit umzugehen.“ Jeder Mensch habe eine Leidenschaft im Leben, wofür er viel Zeit investiert. Genau das macht sie auch. Dabei hat sie nie emfpunden, weniger Freizeit zu haben.
„Ich sehe meine Freunde sicher weniger, als jemand, der ein geregeltes Berufsleben hat, aber die Zeit ist dann auch umso kostbarer.“ Um herunter zu kommen, nimmt sie sich jedes Jahr drei Monate frei, denn: „Ich kann keine 200 Prozent im Jahr spielen, ich habe meine Grenzen kennengelernt und akzeptiert.“
Die Person, die ihr am nächsten steht, ist ihre Schwester Mona Asuka, die – wie könnte es anders sein – ebenfalls Pianistin ist. Als Konkurentin betrachtet sie sie nicht. „Die Leute vergleichen uns, aber wir sind vom Charakter her ganz anders und spielen auch ganz unterschiedlich. Wenn man Vergleiche stellen will, dann muss man dies mit der ganzen Generation machen. Neid gibt es zwischen uns nicht.“
Aktuell arbeitet Alice neben ihren Solorezitalen an einigen Kammermusikprojekten. Demnächst wird sie in Chicago mit dem dortigen Symphonie Orchestra erstmals Bartok 3 spielen. „Es ist eine tolle Musik und das melodischste seiner drei Klavierkonzerte.“ Am Pult stehen wird der junge spanische Dirigent Pablo Heras-Casado.
Doch zurück zum bevorstehenden Konzert. Die Umsetzung des Programms, das sie an diesem Abend mit Francesco Tristano in der Stuttgarter Liederhalle darbieten wird, verspricht ebenso anstrengend zu werden wie in Baden-Baden (s. http://www.sellawie.com/alice-sara-ott-und-francesco-tristano-ungestuem-der-jugend/), als das Duo Virtuoso nicht nur mentale, sondern auch physische Schwerstarbeit verrichtete.
“Ja, es ist sehr anstrengend“ gesteht die hübsche Pianistin. Aber wenn sie zu zweit spielen, wird sie von Franceso so angestachelt, dass sich das ins Unendliche steigert. Das Rezept, um das durchzustehen: viel Schokolade und Zucker und viel Espresso. Und dennoch: “Nach der ersten Hälfte spüren wir das sehr körperlich. Wenn man drin ist, merkt man nicht wie sehr man sich verausgabt, erst danach. Aber es ist ein tolles Gefühl.”
Ein paar Stunden später in der Stuttgarter Liederhalle wir das Glück, in der dritten Reihe zu sitzen. Wir sehens, wie sie nach dem Auftritt erschöpft durchatmet, förmlich nach Luft schnappt – als hätte sie einen Langstreckenlauf hinter sich. Lang anhaltender Beifall und Bravorufe.
Text: Christian und Sandra Euler Bilder Marie Staggat / DG
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